Was für Menschen mit Körperbehinderung tatsächlich eine Verbesserung im Sinne der UN-Behindertenkonvention sein werde, könne für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung auch zu mehr Unsicherheit und weniger Begleitung führen.
Auf jeden Fall wächst die Bürokratie. Gut 100 neue Stellen richtet allein der Landschaftsverband Westfalen-Lippe für die individuelle Bedarfsermittlung ein und die Caritas-Einrichtungen bereiten sich ebenso mit hohem Aufwand darauf vor. In Frage steht auch die fristgerechte Umsetzung, denn noch verhandeln Landschaftsverbände, Kommunalvertreter, Wohlfahrtspflege, private Anbieter und Selbshilfeverbände den Landesrahmenvertrag zum Gesetz.
Der hohe Verwaltungsaufwand für Einrichtungen und Kostenträger ist in der Grundidee angelegt: Die Landschaftsverbände werden weiterhin die Betreuung bezahlen. Aber die Wohn- und Lebenskosten sollen alle behinderten Menschen oder deren Betreuer künftig wie jeder andere Bürger ohne Einkommen als Sozialhilfe beantragen. Wohnen sie in einer Einrichtung und werden dort versorgt, erhalten Sie dann darüber eine monatliche Rechnung, die sie daraus bezahlen müssen.
Hier wird es für die Träger von Wohnheimen und Werkstätten kompliziert. Wolfram Teschner, Geschäftsführer der Caritas Wohn- und Werkstätten Niederrhein (CWWN) in Moers beschreibt es an dem Beispiel einer Bewohnerin in einer ambulant betreuten Wohngruppe: Das eigene Zimmer gilt als "Wohnfläche". Die verlässt sie über die "Mischfläche", um sich mit den Mitbewohnern in der "Fachleistungsfläche", dem Wohnzimmer, zu treffen. Misch- und Fachleistungsflächen müssen anteilig auf den einzelnen Bewohner umgelegt werden. Unklar bleibe noch die Zuordnung des Gartens, sagt Teschner. Er könne Mischfläche sein oder doch Fachleistungsfläche, weil hier auch Betreuung stattfinden könne.
Die CWWN haben inzwischen eine eigene Stabsstelle zur Vorbereitung auf das BTHG eingerichtet. Deren Aufgabe ist vor allem auch die Information der Angehörigen, die in vielen Fällen als Betreuer die Sozialhilfe werden beantragen und für die pünktliche Bezahlung der Rechnungen werden sorgen müssen.
Heinz Gatzlaff als Vorsitzender des Angehörigenbeirats hat als Erkenntnis aus vielen Gesprächen gewonnen: "Die meisten haben noch nicht realisiert, was auf sie zukommt". Häufig haben Eltern die Betreuung übernommen und die könnten mit den bürokratischen Erfordernissen überfordert sein. Teschner teilt den Eindruck, dass das neue Gesetz in Teilen praxisfern ist. Mehr Selbstbestimmung als Ziel lasse sich auch ohne den komplizierten Verwaltungsaufwand erreichen. Daran arbeite man seit langem und durchaus erfolgreich.
Die guten Ansätze des BTHG werden nach Auffassung von Diözesancaritasdirektor Heinz-Josef Kessmann von einem Vorurteil überschattet. Das Misstrauen, dass sich die Einrichtungen der Behindertenhilfe bislang ihren Bedarf und damit ihre Einnahmen selbst schafften, habe sich allerdings schon einmal als Trugschluss erwiesen. Beim ambulant betreuten Wohnen habe die Ermittlung des Betreuungsbedarfs jedes Bewohners im Ergebnis zu mehr Leistungen geführt. Jetzt soll mit jedem behinderten Menschen geschaut werden, wie er wohnen und wo er arbeiten möchte und welche Unterstützung er dafür benötigt. "Da könnte sich auch ein höherer Bedarf ergeben", sagt Kessmann.
Das Behindertenteilhabegesetz schreibt aber auch fest, dass die Umsetzung kostenneutral erfolgen soll - trotz mehr Planstellen bei den Landschaftsverbänden. Dann werde wohl als erstes bei den Freizeitangeboten weiter gekürzt werden müssen, fürchtet Wolfram Teschner. Was wohl kaum zu mehr Teilhabe führen werde.
025/2019 (hgw) 9. April 2019