Denn manche überschreiten Grenzen und gehen in die Polizeistatistik ein: Ein knappes Drittel der Fälle sexueller Gewalt werden von unter 21-jährigen begangen. Hier vorzubeugen und umzusteuern, damit sich dieses Verhalten nicht verfestigt, ist Aufgabe einer neuen Fachberatungsstelle der Caritas Ahlen. Seit Oktober vergangenen Jahres arbeitet Robert Stamner mit den ersten dazu verurteilten Jugendlichen, im Mai ist die offizielle Eröffnung geplant. Es ist die erste ihrer Art in der Caritas für die Diözese Münster und eine von gerade einmal einem Dutzend in Nordrhein-Westfalen.
"Es geht darum, schnell zu reagieren, um die aktuelle Krise als Chance und Motivation zur Veränderung zu nutzen" sagt Christa Kortenbrede, die die Fachstelle gegen sexuellen Missbrauch, Gewalt und Vernachlässigung der Caritas Ahlen leitet, in der dieser neue Arbeitsbereich angesiedelt ist. "Notwendig ist eine klare Haltung gegenüber den Jugendlichen und gleichzeitig nehmen wir sie an", so Kortenbrede. Wenn es gelingt, dass sie ihr Fehlverhalten anerkennen, kann eine Verfestigung des Tatmusters abgewendet werden.
Ansonsten können die aufregenden Gefühle und die Erfahrung, noch mal davon gekommen zu sein, sich positiv verstärken. "Sexuell missbräuchliches Verhalten beginnt selten erst im Erwachsenenalter" weiß Stamner. Aber die meisten erlebten Entsetzen und massive Ablehnung nach Aufdeckung der Tat. Wenn sie in der Beratungsstelle "spüren, mich verurteilt hier keiner", fühlten sie eine große Erleichterung. Denn auch hier gelte der Grundsatz das Verhalten abzulehnen aber den Jugendlichen zugleich zu begleiten.
Konkret mit den übergriffig gewordenen Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, macht nur einen Teil der Arbeit Stamners aus. Der andere ist der Unsicherheit im Umgang mit sexuellem Verhalten von Kindern geschuldet. "Anfragen von Kitas sind schon recht häufig", sagt Christa Kortenbrede. Da stelle sich die Frage, was noch unter normale Doktorspiele gefasst werden könne und wo doch Grenzen überschritten seien. Hier sei eine besondere Sensibilität wichtig: "Gegenseitiges Angucken und Anfassen gehören in diese Altersphase und sind Teil kindlicher Sexualität", ergänzt Stamner. Eine Bewertung dieses Verhaltens sei nur im individuellen Einzelfall möglich und immer ein Balanceakt. "Wir dürfen nicht bagatellisieren, aber auch nicht dramatisieren", so Stamner.
Wenn doch notwendig, muss schnell reagiert werden. Das war im Kreis Warendorf bislang ein Problem, denn die nächsten Fachberatungsstellen gibt es in Münster und Bochum. Also ist mindestens eine Stunde Fahrt notwendig und es muss einen Termin geben. Bei langen Wartezeiten wachse die Verdrängung, so Stamner. Manche sagten sich dann: "Vielleicht war es doch nicht so schlimm?"
Schnelligkeit ist insbesondere notwendig, wenn die Gefahr bestehe, dass Jugendliche erneut übergriffig würden. Der Weg zur Verhaltensänderung erweist sich zudem als aufwändig und langwierig. "Unter einem Jahr ist das eigentlich nicht möglich", sagt Stamner: "Wir rechnen mit zwei Jahren für Jugendliche, die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung begangen haben". Zusammen mit einer Kollegin arbeitet er die Tat auf und schaut, ob es ein stabiles soziales Umfeld gibt. Ist das nicht gegeben, kann eine Aufnahme in einer stationären Einrichtung notwendig werden.
Da braucht es viel Sensibilität und Erfahrung. Die bringt Robert Stamner persönlich aus Studium und praktischer Arbeit mit. Zudem kann er auf das Team der Caritas Ahlen zurückgreifen. Christa Kortenbrede blickt auf eine längere Entwicklung im Kreis Warendorf zurück. Schon 1995 gab es als ersten Ansatz das "Warendorfer Kooperationsmodell'", in dem sich drei Erziehungsberatungsstellen zusammenfanden und drei zusätzliche halbe Stellen für die Beratung von Opfern sexuellen Missbrauchs geschaffen wurden. Seit 2003 ist die Fachstelle gegen sexuellen Missbrauch als zentrale Anlaufstelle für den Kreis bei der Caritas Ahlen angesiedelt.
Die neue Spezialberatungsstelle, die zur Eröffnung noch auf einen neuen Namen getauft werden wird, ist vor zwei Jahren als Projekt zur "Beratung und Intervention bei sexuell übergriffigem Verhalten von Kindern und Jugendlichen" mit Unterstützung der Aktion Mensch unter dem Arbeitstitel "Stopp sexualisierte Gewalt" gestartet. Bei diesem sensiblen Thema ist Robert Stamner und Christa Kortenbrede bewusst geworden, dass Aufbauarbeit mit langem Atem notwendig ist. Aber: "Wir dürfen die Augen nicht verschließen", sagt Kortenbrede: "Schlimmer wäre es, wenn die Kinder und Jugendlichen keine Hilfe erfahren würden."
021/2015 (hgw) 2. April 2015
Kontakt für Nachfragen: Christa Kortenbrede, Telefon 02382-893-136,
E-Mail: fachstelle-gegen-missbrauch@caritas-ahlen.de