Auch hier mussten die Kinder und Jugendlichen von einem Tag auf den anderen morgens betreut und dafür alle Reserven mobilisiert werden. "Wir sind krisenerprobt", sagt die Referentin im Diözesancaritasverband. Das habe sich schon gezeigt, als innerhalb kürzester Zeit viele neue Plätze für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge geschaffen werden mussten.
Die fehlenden Verordnungen sind für Schulte symptomatisch dafür, dass die Jugendhilfe weitgehend "unter dem Radar" der Politik arbeitet. Dabei müsse sie auffangen, was zunehmend in Gesellschaft und Familien bei Versorgung und Erziehung von Kindern falsch laufe. Das zeigt sich in Zahlen. Obwohl inzwischen viele junge Flüchtlinge volljährig geworden und wieder ausgezogen sind, verharrt die Zahl der Plätze in der stationären Jugendhilfe bei der Caritas in der Diözese Münster auf hohem Niveau. Statt 2.108 in 2018 waren im vergangenen Jahr immer noch 2.072 genehmigt und fast durchgehend belegt.
Mehr Sorgen bereitet der Caritas-Mitarbeiterin, dass es immer mehr hochproblematische Fälle gibt. "Systemsprenger" nenne man diese Kinder und Jugendlichen, jedoch sprengen diese Kinder nicht die Jugendhilfesysteme, sondern "das System ist nicht immer passend für das Kind", sagt Schulte. Zunehmend arbeiteten die Einrichtungen mit Methoden der Traumapädagogik und an der Schnittstelle zwischen Jugendhilfe und Psychiatrie.
Eine Entlastung in der absehbaren Zukunft erwartet Schulte aus mehreren Gründen nicht. Noch zeigten sich die Auswirkungen der Corona-Zeit nicht, aber "wir erwarten deutlich mehr Kinderschutzfälle". Die Mehrbelastung trifft auf im Durchschnitt immer ältere Mitarbeiter. Im vergangenen Jahr seien 14,5 Prozent von ihnen 55 Jahre und älter gewesen. Auch für die Jugendhilfe werde das Thema Fachkräftemangel dringender. Neue Mitarbeiter sollten vor allem Männer sein, damit das Verhältnis ausgeglichener werde. Zu über 60 Prozent werden Jungen betreut, aber zu über 70 Prozent von Frauen.
076/2020 (hgw) 29. Juli 2020