Hier einziehen zu dürfen "ist keine Belohnung", sagt Heimleiter Bernhard Paßlick, "aber auch keine Strafe". Vielmehr ist es ein bislang in der Diözese Münster einmaliger Ansatz, ein sich zuspitzendes Problem in der Kinder- und Jugendhilfe kreativ zu lösen. Möglich wurde es durch eine Förderung der Aktion Lichtblicke, die dafür 25.000 Euro bewilligt hat.
Ben (17) hat als Erster das Tiny House bezogen und bereitet sich gerade auf die Mittlere Reife vor. Er schätzt die Ruhe und Selbständigkeit, die ihm sein "eigenes Reich" mit kleiner Küche, großzügiger Nasszelle und selbst eingerichtetem Wohnraum bietet. Aus verschiedenen Gründen war es für ihn sinnvoller, aus der Gruppe "Ziegenhof" in das vor dem Gebäude aufgestellte Tiny House umzuziehen.
Die Gründe für diesen neuen Ansatz kann Bernhard Paßlick gut am Beispiel von Jugendlichen beschreiben, für die ein "Umzug" hilfreich sein kann. Schulverweigerung, exzessiver Medienkonsum oder das Unvermögen, den Alltag zu regeln mit der Tendenz, alle Regeln zu ignorieren, können sich zu einer Problematik verdichten, "die im normalen Gruppensetting irgendwann nicht mehr tragbar ist", erläutert der Einrichtungsleiter. Unter anderem für diese Jugendlichen sei das Wohnen im Tiny House geeignet.
Eigentlich sollen die Jugendlichen erst ab 16 Jahren im Tiny House einziehen und damit auch in Richtung Verselbständigung geführt werden. In Einzelfällen könnten sie jedoch auch jünger sein. Wichtig sei jedoch, ein paar Fähigkeiten mitzubringen, um in ein Tiny House einziehen zu dürfen: "Dieses Angebot ist ein ganz besonderes - eben für ganz besondere Jugendliche", stellt Paßlick klar.
Zunehmend nimmt auch das zur Caritas zählende Vinzenzwerk Jugendliche auf, die eine lange Vorgeschichte aus Vernachlässigung, Gewalt, Missbrauch, Aufenthalten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie mitbringen und in der Regel auch in mehreren Jugendhilfeeinrichtungen gescheitert sind. Da droht in entsprechendem Alter schließlich die Gefahr, ein letztes Mal herauszufliegen und in der Wohnungslosigkeit zu landen, erklärt Paßlick.
Herausforderndes Verhalten nennt sich die Problemlage, die zunehmend zu einem Problem in den Einrichtungen wird und immer mehr Aufwand in der Begleitung erfordert. Die Regeln in Gruppen nur sehr schwer akzeptieren zu können, hänge weniger damit zusammen, dass die Jugendlichen diese nicht nachvollziehen könnten, sagt Bernhard Paßlick. Sie scheiterten eher an ihren "Störungsbildern, die ein Zusammenleben mit mehreren jungen Menschen nur sehr schwer ermöglichen." In der Regel hätten sie eigene Gewalt- oder Missbrauchserfahrungen gemacht, was dann in manchen Fällen auch zu gewalttätigen Übergriffen gegenüber Mitarbeitenden führe, so Paßlick.
Aber es gibt auch andere Gründe, die einen Umzug ins Tiny House sinnvoll erscheinen lassen. Wie bei Ben, ohne dass die hier näher erläutert werden sollen. Seit 2018 ist er bereits im Vinzenzwerk und hat eine nicht unproblematische Lebensgeschichte mitgebracht. Bernhard Paßlick sieht ihn jetzt auf einem guten Weg. Ben bestätigt das mit seinen klaren Vorstellungen, wie es nach der Mittleren Reife weiter gehen soll. Er wird aufs Berufskolleg wechseln, dort sein Abitur machen und würde dann gerne Geschichte und Philosophie studieren. Der Kafka im Regal über seinem Schreibtisch lässt es schon erahnen.
Im Tiny House kann er sich ungestört darauf vorbereiten, allerdings wird erwartet, dass die Jugendlichen hier selbst saubermachen und aufräumen. Kochen könnte er auch, aber da greift Ben lieber auf das Essen in der Gruppe nebenan zurück. Seine Kleidung wäscht er selbst, denn ein Waschtrockner gehört auf der begrenzten, aber geschickt genutzten Fläche dazu.
Bernhard Paßlick sieht im Tiny House eine gute Balance zwischen Selbständigkeit und weiter bestehender Anbindung an die Bezugssgruppe. Das sei sowohl durch die räumliche Nähe wie auch durch die Einbindung in die Gruppenabläufe gesichert. Es sei in der Gruppe mit allen Jugendlichen im Vorfeld besprochen worden, wer eines der beiden Tiny Houses beziehen durfte.
Das Landesjugendamt hat Paßlick sofort von seiner Idee überzeugen können, die als Experiment gedacht ist, sich aber schon nach wenigen Wochen zu bewähren scheint. Ein Standort für weitere zwei oder drei Tiny Houses ist auf dem weitläufigen Gelände des Vinzenzwerks schon ausgeguckt. Von der Idee bis zur Aufstellung der ersten beiden habe es eine Weile gebraucht. Für das Bauamt der Stadt Münster sei es mangels Erfahrung schwierig gewesen, eine Baugenehmigung zu erteilen. Obwohl die Tiny Houses nur auf einer Schotterfläche aufgebockt sind und jederzeit wieder "an den Haken" genommen werden könnten, um zu einem anderen Ort gezogen zu werden - eben wie ein etwas größerer Wohnwagen.
037-2021 (hgw) 27. März 2021