"Gefühlt gibt es sie nicht mehr", beschreibt Stefanie Weßels die inzwischen so oft vergebliche Suche mit ihren Klienten in der Wohnungsnotfallhilfe des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) Ibbenbüren nach Wohnraum, der die vorgegebenen Kriterien erfüllt. Steigende Mieten und vor allem die Nebenkosten verschärfen die Situation. "Das hat etwas von Verzweiflung", beobachtet Weßels Kollegin Gabriele Andresen. Das Wohnungsproblem sieht sie als eine der gravierendsten Facetten der Armut. Die aber noch viele mehr hat.
Notgedrungen muss die Wohnung dann doch etwas größer oder etwas teurer sein. Das Jobcenter akzeptiert das, übernimmt aber nicht die Mehrkosten. Die müssen vom ohnehin schon schmalen Monatsbetrag abgeknapst werden, der zur Zeit für einen Erwachsenen bei 446 Euro liegt. "Und nächstes Jahr gerade mal um drei Euro erhöht wird", dämpft Andresen die Hoffnung auf ein Entrinnen aus der Armutsfalle. Die stark steigenden Lebenshaltungskosten werde das bei ihren Klienten in der Allgemeinen Sozialberatung und Wohnungsnotfallhilfe nicht auffangen.
Die beiden Sozialarbeiterinnen befürchten Schlimmes für das neue Jahr. Neben den allgemein steigenden Preisen sind es vor allem auch die Stromkosten, die Hartz-IV-Haushalte belasten. Dafür ist in den Monatsbetrag eine Pauschale eingerechnet, die allerdings ebenso schon lange der Realität entrückt ist und in die Verschuldung führt.
Eigentlich sollte Armut kein Thema in einer Stadt wie Ibbenbüren sein mit ehemals gut verdienenden Bergleuten und boomendem Gewerbe, das die Schließung der Zeche auffängt. Aber "im Kreis Steinfurt gibt es schon viel prekäre Beschäftigung", weiß Stefanie Weßels, und damit auch in der zweitgrößten Kommune. Der Mindestlohn sei einfach nicht ausreichend für Familien und die Situation habe sich durch den coronabedingten Entfall von Stellen in der Gastronomie noch verschärft.
Das Grundübel der Armut ist das mangelnde Geld, die Auswirkungen sehr vielfältig und das Problem des bezahlbaren Wohnens nur eine besonders gravierende Folge. Welche Bereiche betroffen sind und sowohl von den Betroffenen als auch den Mitarbeitenden in den Diensten als besonders belastend angesehen werden, hat der SkF auf Bundesebene in einer Befragung erhoben, zu der der SkF Ibbenbüren zehn Prozent der Fragebögen beigesteuert hat.
Vor allem fehlen die Möglichkeiten der "Teilhabe am sozialen Leben", erklärt SkF-Geschäftsführerin Barbara Kurlemann: "Die Menschen fühlen sich ausgegrenzt". Schon der Besuch in einem Schwimmbad oder einer Eisdiele strapaziere das monatliche Budget, die Mitgliedschaft der Kinder in einem Sportverein umso mehr. Zwar gebe es das "Bildungs- und Teilhabepaket", aber das reiche nicht, sagt Andresen. Für Sport beispielsweise brauche es zusätzlich die passende Kleidung.
Gabriele Andresen und Stefanie Weßels stoßen aber auch immer wieder auf existenzielle Probleme, bei Zuzahlungen im Gesundheitsbereich zum Beispiel: "Manchmal lösen wir Brillen aus", sagt Weßels. Sie sind bestellt und abholbereit, aber dann fehlt das Geld, auch wenn es in der Regel nur um 100 Euro seien. Gleiches gelte für Zahnersatz.
Wie prekär die Lage mancher armen Menschen ist, hat Barbara Kurlemann am Anfang der Pandemie erfahren, als die Suppenküche im ersten Erschrecken geschlossen werden musste. Wochen später wurde sie von einer der regelmäßigen Gäste abgepasst mit der Frage, ob und wann es wieder das günstige Mittagessen geben könne. "Sie hatte schon fünf Kilo abgenommen", sagt Kurlemann: "Das war "für uns der letzte Anstoß, unser geplantes coronagerechtes Abholangebot, unsere "Warme Mahlzeit to go", schnellstmöglich umzusetzen."
Das gibt es gerade wieder in der vierten Welle. Von den vor Corona üblichen 30 Gästen nutze das jetzt etwa die Hälfte. An diesen und vor allem an den Zahlen der Tafelkunden lässt sich das Ausmaß der Armut in der Stadt erahnen. Rund 180 Haushalte versorgen sich derzeit mit günstigen Lebensmitteln. Für die SkF-Mitarbeiterinnen ist aber klar, dass es eine hohe Dunkelziffer gibt. Der Besuch von Tafel und Suppenküche sei mit viel Scham verbunden.
"Sorgen machen uns aktuell die vielen Nachfragen aufgrund der steigenden Energiekosten", sagt Barbara Kurlemann. Zunehmen würden auch Anfragen nach Unterstützung für den normalen täglichen Bedarf, weil das Geld einfach nicht reicht. Ein weiteres Symptom der Armut in einer wirtschaftsstarken Region, aber auch nicht das letzte.
117-2021 (hgw) 28. Dezember 2021