Aktuell betreut sie Lellin, deren Familie aus dem Irak stammt. Sprachlich ist nicht die Spur eines Akzents zu hören, aber mit der deutschen Grammatik im Schriftlichen und mit bestimmten Begriffen tut sie sich noch schwer. Renate Höink bringt die Erfahrung ihrer eigenen Kinder und viel Gelassenheit ein, um ihr die Wortarten zu erklären und den Sprachschatz zu erweitern.
In der Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche waren Werner von dem Berge, damals noch deren Leiter, häufig Kinder mit erheblichen Lernrückständen vorgestellt worden: "Ihnen drohte bereits frühzeitig ihr schulisches Scheitern und ein Leben ohne berufliche Perspektive." Als der Diözesancaritasverband Münster eine Förderung für innovative Projekte anbot, nutzte er die Chance. Die Idee: Vor Ort sollten Ehrenamtliche die Lücken schließen und Lernfreude zurückbringen.
Es geht nicht um eine Hausaufgabenhilfe, erklärt Werner von dem Berge. Nach dem Wechsel in den Ruhestand begleitet er seit rund zehn Jahren ehrenamtlich als Koordinator das Projekt. Vielmehr wollen die Bildungspaten grundlegendere Defizite ausgleichen, die den Übergang von der Grund- in eine weiterführende Schule schwierig gestalten könnten, Wenn in der vierten Klasse ein Schüler über die Zahl 20 nicht hinauskomme, sei das Scheitern abzusehen.
"Wir wollen die Kinder dort abholen, wo ihre Defizite begründet sind", sagt von dem Berge. Und damit eine Erfolgsspirale in Gang setzen, die sie neu motiviert. Geduld und Einfühlungsvermögen sind da von den Bildungspaten gefordert. Pragmatische Ansätze ebenso, wie Hannelore Hermanig berichtet. Die Begleitung eines syrischen Mädchens in der Schule wie sonst üblich ging nicht mehr. Aber jetzt geht sie zu ihr nach Hause und fördert sie dort auf "spielerische Art und Weise". Das Mädchen vergesse ganz schnell und kenne viele deutsche Begriffe nicht, die sie ihr dann erkläre, sagt Hermanig.
In den gut zehn Jahren haben 90 Bildungspaten rund 150 Kinder für anderthalb bis zwei Jahre begleitet. Für die Beratungsstelle sieht von dem Berges Nachfolgerin Hildegard Schindler ermöglichen die Ehrenamtlichen ein wertvolles Zusatzangebot, das mit den hauptamtlichen Mitarbeitenden nicht zu leisten wäre. Häufig sind es Kinder, deren Familien schon in ihrer Beratung sind, empfohlen werden sie aber auch von den Schulen oder Stadtteilzentren. Schon nach wenigen Monaten beobachtet Hildegard Schindler "deutliche Verbesserungen in ihrem Arbeitsverhalten und bei den schulischen Leistungen".
Derzeit sind noch 20 Bildungspaten im Einsatz, in der Coronazeit musste Werner von dem Berge einen Schwund von zehn Ehrenamtlichen hinnehmen. Ständig werden neue gesucht, wofür sich die Pressearbeit als das erfolgreichste Mittel herausstellt: "Einmal haben wir auf einen Artikel hin 13 Interessenten gewinnen können." Renate Höink ist eine von den Ehrenamtlichen, die sich davon angesprochen fühlten.
Was neue Bildungspaten mitbringen sollten, kann von dem Berge in wenigen Worten beschreiben: "Spaß an der Arbeit mit Kindern und Freude an ihrer Entwicklung." Bevor die erste Patenschaft angebahnt wird, erfahren die Bildungspaten in einer Schulung Grundlagen zur Entwicklung von Kindern und Lernstörungen. Die Konzentrationsspanne reicht manchmal nur für 20 Minuten, dann müssen die Lernphasen durch Spiel unterbrochen werden. Ihre Erfahrungen können die Bildungspaten regelmäßig in vierteljährlichen Treffen austauschen.
Ein- oder zweimal in der Woche sollen die Bildungspaten "ihr" Kind treffen. In der Regel holen sie sie aus der Offenen Ganztagsgrundschule ab, gehen in einen separaten Unterrichtsraum und können dort ungestört miteinander arbeiten. In der weitläufigen Stadt hat es sich bewährt, vor Ort zu gehen, um lange Anfahrtswege zu vermeiden. Elf von 13 Grundschulen in Marl nutzen das Angebot, regelmäßig hält Werner von dem Berge Kontakt zu ihnen.
Nicht immer gelingt die Förderung, bislang musste aber nur in ganz seltenen Fällen die Patenschaft vorzeitig beendet werden. "Entscheidend ist die Motivation der Kinder", sagt Ludger Müller. Wenn die stimmt, kann viel erreicht werden, dann ist es auch schon gelungen, dass ein Kind die Gymnasialreife erreicht hat, ergänzt Hannelore Hermanig.
Hubert Scheper kann ebenso von Erfolgserlebnissen berichten, aber er musste auch eine Patenschaft abbrechen. Eines seiner Patenkinder war so wenig motiviert, dass er nicht weiter kam. Aber auch nach dem Ende der Förderung habe der Junge ihn noch jedes Mal freudig gegrüßt, wenn sie sich auf dem Schulhof begegnet seien. Eigentlich endet eine Patenschaft immer geplant und dann mit einem schönen Abschluß. "Da geht man mal Eis essen oder fährt in die Unterwasserwelt nach Oberhausen", nennt Scheper Beispiele.
068-2021 (hgw) 3. August 2021