Mit diesem Ansatz der Traumapädagogik hat die Kinder- und Jugendhilfe St. Mauritz seit zwölf Jahren einen neuen Blick auf das zunächst einmal rätselhaft erscheinende "herausfordernde" Verhalten gefunden. Für deren Leiter Michael Kaiser ist das Verstehen der Ursachen das Einbiegen in den gemeinsamen Weg des Gegensteuerns mit den Kindern. Auf den guten Erfahrungen aufbauend ist trotz der Erschwernisse der Coronazeit eine zweite Qualifizierungsreihe Traumapädagogik für Mitarbeitende gestartet.
Um diese Kinder geht es zum Beispiel: "Da kommen Sechsjährige zu uns, die schon viele Stationen durchlaufen haben", sagt Kaiser. Ihr herausforderndes Verhalten lässt sie schon in diesem Alter in Kita und Schule untragbar werden. Aber das sei eben nur eine Reaktion auf ihre Traumatisierung. "Sie brauchten das zum Überleben", erklärt die pädagogische Bereichsleiterin in St. Mauritz, Gerdie Musekamp: "Sie müssen erst verstehen lernen, dass sie es nicht mehr brauchen." Die Kinder würden durchaus merken, dass mit ihnen etwas nicht stimme, "suchen den Fehler aber bei sich."
In der Traumapädagogik gehe es deshalb darum, einen Weg in die Lebenswelt der Kinder zu finden, um den guten Grund für ihr Verhalten zu ergründen. Gelinge das, spürten sie zum ersten Mal, Verbündete gefunden zu haben. Gemeinsam kann der Weg heraus gefunden werden, können sie den "permanenten Überlebensmodus" verlassen, sagt Musekamp.
Dass "wir es zunehmend mit schwer traumatisierten Kindern zu tun haben", führt Michael Kaiser nicht zuletzt auf gesellschaftliche Entwicklungen zurück, die sich in Coronazeiten noch einmal verschärft hätten. Die Orientierungslosigkeit wachse, die Digitalisierung setze Eltern unter Druck, ständig online zu sein. Kaiser zeigt Verständnis für ihre Situation, "aber wir halten die eigene Position". Das Wohlergehen der Kinder bleibt oberster Maßstab und die Verantwortung bei den Eltern, wenn es ihnen schlecht geht.
Kritisch sieht Gerdie Musekamp, wie hoch das Elternrecht in Deutschland gehalten werde: "Es braucht sehr viel Mangelversorgung, bevor gehandelt wird." Dabei merkten sie häufig selbst, dass sie ihrer Elternrolle nicht gerecht würden, Aber das einzusehen sei schwer. Weil nicht rechtzeitig mit den richtigen Hilfen eingegriffen werde, verlängerten sich die Leidenswege unnötig.
Da geht es um emotionale Vernachlässigung aber auch um existenzielle Not wie Hunger. Ist das als traumatische Erfahrung identifiziert, schlagen die Betreuer in St. Mauritz zum Beispiel vor, gemeinsam eine Vorratskiste anzulegen, auf die die Kinder jederzeit zugreifen können. Schon Gespräche mit den Kindern könnten "gute Hinweise" geben, erklärt Musekamp. Wie man sie führt, ist deshalb Thema in der Qualifizierung.
Traumata zu verstehen und zu identifizieren kann entscheidend für eine gute Zukunft sein. "Aus der Neurologie wissen wir, dass Vernachlässigung, Drogen und andere Mangelerfahrungen auch hirnorganische Veränderungen bewirken", sagt Michael Kaiser. Wichtig sei deshalb in der Pädagogik auch Wissen aus anderen Disziplinen. In einfachen Modellen werde den Kindern und Jugendlichen im Rahmen von Psychoedukation die Funktionsweise erklärt. "Die Kinder erkennen, dass nicht sie nicht normal sind sondern das was sie erlebt haben", sagt Kaiser. Mit diesem Verständnis "eröffnen sich Handlungsspielräume."
Dabei sei Traumapädagogik nicht nur hilfreich für die Kinder. Auch ihren Betreuern gehe es besser, wenn sie dadurch Wege zu ihnen fänden und ein besseres Verständnis zu dem immer wieder rätselhaften Verhalten entwickelten. Dann sei zum Beispiel klar, dass Überraschungen für diese Kinder bedrohlich seien, erklärt Gerdie Musekamp. Klare und transparente Strukturen seien für die Kinder und Jugendlichen sehr wichtig und darauf werde deshalb besonders geachtet. "Da entsteht Sicherheit."
Die sehr guten Erfahrungen mit der Traumapädagogik haben Michael Kaiser und das Team der Kinder- und Jugendhilfe St. Mauritz über die Jahre von der Richtigkeit des Ansatzes überzeugt. Dabei, das betont der Einrichtungsleiter, sei die einzelne Methode an sich nichts Neues, schon aber die konsequente Umstellung einer Jugendhilfe-Einrichtung mit der Idee, dazu eine neue gemeinsame Haltung zu finden und die Kinder und Jugendlichen in ihrer Entwicklung zu begleiten..
Als St. Mauritz sich 2008 komplett dorthin auf den Weg machte, gab es noch Widerstände. Die sind längst überwunden, so dass die umfangreiche neue Qualifizierung in sieben Modulen intern auf großes Interesse stößt. Viele Anfragen aus anderen Einrichtungen zum Austausch und zur Weiterentwicklung der Traumapädagogik belegen das nicht minder große Interesse außen.
114-2021 (hgw) 23. Dezember 2021