Ein Autounfall hat Sabrina H. vor drei Jahren aus der Lebensbahn geworfen, lange lag sie im Koma, schwere Behinderungen sind zurück geblieben. In kleinen Schritten tastet sie sich wieder ins Leben zurück. 30 Jahre ist sie alt und wohnt jetzt im Altenheim St. Hedwig in Kamp-Lintfort. Nur hier gibt es am linken Niederrhein zwischen Emmerich und Köln mittlerweile 17 Plätze "Junge Pflege" in eigenen Wohngruppen. In der Pflege sind die Erfahrungen in der Betreuung alter Menschen für die Mitarbeiter hilfreich. Ansonsten mussten "wir schon ein bisschen schräg" werden, wie Heimleiter Fred Krusch formuliert.
Wünsche und Bedürfnisse passen zur Generation: Jetzt steht ein Kicker im Keller, dröhnt "Rosie im Sperrbezirk" aus dem Lautsprecher und wird zwischendurch das "Nagelstudio" geöffnet. All das und viel mehr Möglichkeiten, die es für die neuen Bewohner andernorts nicht gab. Sie lebten zuhause, wo die Angehörigen mit der Pflege überfordert waren, sie kommen aus Krankenhäusern und Altenheimen, wo sie "eingestreut" in Wohngruppen zwar gut gepflegt wurden, aber nicht altersgerecht leben konnten.
Jeder Fall ist speziell und fordert das Team um Claudia Wörner (33), die die Junge Pflege mitaufgebaut hat, immer wieder heraus. Und um jeden Fall, sagt Krusch, "müssen wir mit den Kostenträgern kämpfen". Vor allem der Anfang 2011 war nicht leicht. Als der Durchbruch gelang, wurde im Hauruck im Erdgeschoss eine Wohngruppe leergezogen. Allerdings dauerte es nicht wie erwartet Jahre, die Räume neu zu füllen. Die elf Plätze sind längst belegt, 13 weitere mussten schon 2014 bereit gestellt werden und waren ebenfalls schnell gefüllt.
Schwer taten sich die Kostenträger, weil der Aufwand doch deutlich höher ist. Weil es besondere Fälle sind: "Da sind schon exotische dabei", sagt Krusch. Zeit kosten aber auch die besonderen Anforderungen jüngeren Lebensalters. Die Jeans muss modisch eng sein, lässt sich aber nicht so schnell anziehen, erklärt Wörner. Duschen ist auch weit öfter angesagt und im Sommer möchten die jungen Bewohner in den Liegestühlen die Sonne genießen, müssen dafür aber eingecremt werden - "und wir müssen darauf achten, dass sie gleichmäßig bräunen", scherzt Krusch.
Locker geht es zu. Denn Frust gibt es auch reichlich, sagt Krusch. Viele hadern wie Sabrina H. mit ihrem Schicksal. Depressionen sind deshalb auch Thema. Dabei gibt es durchaus Erfolge. Mancher Bewohner konnte wieder ausziehen nach Hause oder in eine andere Einrichtung näher bei ihren Familien.
Der jüngste Bewohner, ein 27jähriger Kasache, hatte den klassischen Badeunfall nach Kopfsprung. Sein Zustand war ziemlich schlecht, als er ankam, berichtet Krusch. Mittlerweile habe er Deutsch gelernt und gehe in einer Werkstatt der Caritas Wohn- und Werkstätten Niederrhein (CWWN) arbeiten. Das ist auch in anderen Fällen schon gelungen, weil dort neben der Arbeit die notwendige Pflege und Tagesstruktur gesichert sind.
Viele der Bewohner bleiben lang. Auch das ein deutlicher Unterschied zu den übrigen 65 betagten Bewohnern in St. Hedwig. Deren durchschnittliches Einzugsalter liegt bei etwa 87 und entsprechend bemisst sich die durchschnittliche Verweildauer mit sieben bis acht Monaten und nicht in Jahren.
Viel Wert wird deshalb darauf gelegt, den jungen Bewohnern das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Das fängt bei der individuellen Gestaltung der Zimmer erst an. Sabrina H. hat große Teile der Wände mit bunten Bildern beklebt, die ihr ihre junge Tochter mitbringt, die jetzt bei ihren Großeltern lebt. Gerne hätte Sabrina auch eine Wand pink gestrichen.
Es geht viel: Ausflüge werden unternommen, Bundesligaspiele besucht, Feten organisiert, im Sonnenstudio gebräunt oder abends mal Cocktails gemixt. Fred Krusch hat die Kostenträger überzeugen können, das all dies und die spezielle Pflege mehr Zeit, also auch mehr Mitarbeiter braucht. Auch wegen des erhöhten Diskussionsbedarfs, der sich immer wieder ergibt.
Und Harmonie auf der anderen Seite. Alt und Jung leben nicht nebeneinander, es gibt viele Kontakte, Hilfe untereinander und in den Urlaub wird gemeinsam gefahren. "Eine Lebenswelt zu schaffen, in der wir uns selbst auch wohl fühlen" - das ist Fred Krusch Kernanliegen für jedes Alter.
Dafür hat er vor Jahren auch mit Sky so hart verhandelt, dass der Vorstand sich nach Kamp-Lintfort bemühte. Ergebnis: Der erste Vertrag europaweit eines Altenheims mit Sky. Die Junge Pflege gilt jetzt als "Sportsbar". Wenn gekickt wird, trifft sich Alt und Jung.
140-2016 ( hgw) 28. Dezember 2016