Da lag es für Dr. Stephan Rietmann nahe, auf eine Methode zurückzugreifen, die er schon im Coaching von Führungskräften erfolgreich ausprobiert hat. "Gedankengänge" nennt der Leiter der Beratungsstelle der Caritas Borken die Gespräche mit dem Klienten bei Spaziergängen in freier Natur. Aus der Not geboren ist dieser Ansatz sowohl bei den Ratsuchenden wie in seinem Team so gut angekommen, dass dies ein neuer Baustein in der Arbeit werden soll. Auch wenn persönliche Termine inzwischen wieder möglich sind.
Dass Gehen "eigentlich die natürlichste Sache der Welt ist", zeige sich in den vielen Wortbildern, die auch in der Lösung von Problemen genutzt werden, sagt Rietmann. Da kommt man auf dem Weg mehr oder minder zügig voran, macht einen Schritt in die richtige Richtung oder muss auch mal Umwege in Kauf nehmen. Trotzdem werde diese damit an sich naheliegende Methode bislang in der Erziehungsberatung nicht genutzt.
Auch wenn es nicht immer passt, bieten "Gedankengänge" oder "Wanderberatungen", wie Rietmann sie nennt, unabhängig von den Corona-Einschränkungen viele Vorteile: Manche Klienten wollten beim Erstkontakt nicht Gefahr laufen, in der Geschäftsstelle der Caritas erkannt zu werden, und lehnten sogar einen Hausbesuch ab. Ein Gedankengang müsse ohnehin in einer Umgegend stattfinden, die Vertraulichtkeit bietet, erklärt Stephan Rietmann.
Die Erfahrung ist, "dass man in vielen Fällen schneller und einfacher ins Gespräch kommt", sagt der Psychologe. Vor allem sei das auch bei Menschen der Fall, denen Blickkontakt schwer falle. In der "normalen" Beratungssituation im Büro, in das man aus dem Wartebereich gerufen wird, gehe es bei Gesprächen zielgerichteter darum, das Problem anzugehen und zu lösen. "Bei den Gedankengängen gehen die Gespräche tiefer", erklärt Rietmann. So sei der zeitliche Aufwand zwar höher, aber auf dem gemeinsamen Weg gelinge "eine präzisere Einschätzung der Klienten".
Lösungen für Probleme könnten sich beim Gedankengang aus der Situation ergeben. Als Beispiel schildert Rietmann den Fall eines Vaters, dessen beruflicher Stress zu Problemen in der Familie führte. In den Gesprächen unterwegs habe er erkannt, dass es durchaus möglich sei, sich kleine Pausen zu gönnen und wie entspannend das sein könne.
Natürlich gebe es aber auch Gründe, die dagegen sprechen. Der zeitliche Aufwand sei schon höher und der Berater müsse sich gut auskennen, um den passenden Weg auszuwählen. Anders als draußen könne er in der Beratungsstelle selbst den Raum gestalten und einfacher zeitliche Grenzen setzen. Manchmal sei auch direkter Blickkontakt besser zur Einschätzung der Situation, während man beim Gedankengang naturgemäß nebeneinander gehe.
Mut machten aber die vielen positiven Rückmeldungen sowohl von Klienten wie aus dem Team. Bei den Beratern sei die neue Methode auch beliebt, weil sie Stress abbaue. Bei 32 Beratungsterminen pro Woche sei das im Büro schon ziemlich anstrengend, zumal die angesprochenen Probleme häufig durchaus belastend seien.
Rund 700 bis 800 Klienten werden pro Jahr im Einzugsgebiet der Caritas Borken beraten, in dem etwa 100.000 Menschen wohnen. Neben den Beratungsgesprächen werden im Umfang von vielen hundert Stunden Gruppentherapien angeboten und dazu Erzieherinnen sowie Lehrern Schulungen beziehungsweise kollegiale Beratungen zum Thema Kindeswohlgefährdung angeboten. All dies lag mit Ausbruch der Pandemie brach und boten damit den Freiraum, Gedankengänge zu erproben.
Noch sind die Folgen der Pandemie für die Familien in der Erziehungsberatung nicht vollständig angekommen. Aber wir erwarten, dass die eigentliche Krise erst noch kommt", sagt Stephan Rietmann. Die sozialen und psychosozialen Folgen müssten sicherlich noch aufgearbeitet werden. Da wird noch der eine oder andere Gedankenweg beschritten werden müssen.
074/2020 (hgw) 27. Juli 2020
Erziehungsberatung auf stabilem Niveau
Mit 16.332 Beratungsfällen bleiben die Zahlen in der Statistik der Erziehungsberatungsstellen der Caritas in der Diözese Münster in 2019 auf stabilem Niveau (2018: 16.348). 951 Neuanmeldungen standen deutlich weniger abgeschlossene Fälle entgegen: 10.729 gegenüber 11.280 im Vorjahr. Neben der persönlichen Beratung bieten die - auf Vollzeitstellen umgerechneten - 147 Mitarbeitenden in großem Umfang Gruppenangebote an, um über Erziehungsthemen zu informieren. In 727 Einmalveranstaltungen erreichten sie fast 9.000 Teilnehmende. Zudem wurden 163 mehrtägige Veranstaltungen für fast 1.900 Teilnehmende angeboten und Einrichtungen in 578 Terminen fachlich unterstützt. Großen Raum nimmt zudem die fallbezogene Zusammenarbeit mit Institutionen wie Ärzten, Kitas, Jugend- und Gesundheitsämtern bis hin zu Justiz und Selbsthilfe ein. Hier verzeichnet die Statistik 4.473 Kontakte.