Durch „Sauferei“ habe er alles verloren, Familie, die Arbeit als Metallschleifer, dann die Wohnung und vor 13 Jahren noch den Kehlkopf an Krebs. Jahrelang hat er auf der Straße gelebt, über zehn Jahre im Haus der Wohnungslosenhilfe (HDW) unweit des münsterschen Bahnhofs „gewohnt“, bis Alter und Krankheit es nicht mehr zuließen.
Wie für praktisch alle Bewohner im Projekt „Wohnen 60plus“ musste für den Umzug kein Möbelwagen bestellt werden. Otto Z. reichten ein paar Säcke und Taschen, mehr war nach acht Jahrzehnten nicht übrig. Auf der ruhigen Seite der profanierten und umgebauten Kirche schaut er ins Grüne eines kleinen Gartens. Er ist angekommen.
Acht Apartments konnte der Förderverein für Wohnhilfen im Rahmen eines vom Land geförderten Modellprojekts vor dreieinhalb Jahren belegen. Ein Herzensanliegen des Vorsitzenden Bernd Mülbrecht, der bis vor kurzem als Leiter des HDW immer wieder nach Unterkunftsmöglichkeiten für die Gäste gesucht hat, die alt, krank und pflegebedürftig. Auch nicht das Kommen und Gehen, die Mehrbettzimmer und den ganzen Trubel im HDW.
Wohnen 60plus bietet allerdings mehr als ein Dach über dem Kopf in einem auch architektonisch interessanten Konzept. Ungefähr da, wo früher einmal der Altar gestanden hat, treffen sich Bewohner, Nachbarn und Betreuer im Gemeinschaftsraum. In der kleinen Küche, die dazu gehört, bereitet Judith Schweizer gerade Apfelpfannkuchen für das Mittagessen vor. „Sie ist für die gute Atmosphäre zuständig“, erklärt Christian Benning. Er selbst kümmert sich als Sozialarbeiter um all die Formalien, klärt Fragen mit Krankenkasse und Amt.
Alle Bewohner sind in irgendeiner Weise pflegebedürftig, auch wenn das nicht unbedingt schon der Pflegestufe 1 entspricht. Um in Wohnen 60plus einziehen zu können, müssen sie vorher „langzeitwohnungslos“ gewesen sein, also mindestens zwei Jahre regelmäßiger Gast im HDW. Eine Grunderkrankung haben alle beim Einzug gehabt. Aber, stellt Benning erfreut fest, bei den guten Rahmenbedingungen seien sie – zumindest zunächst – wieder fitter geworden.
Wobei sich das Alter nicht beliebig aufhalten lässt. Und ein Leben auf der Straße Spuren hinterlässt. Das
Durchschnittsalter der Bewohner liegt bei 72 und das ist relativ jung für Pflegebedarf. Soweit Grundpflege notwendig ist, übernimmt das die nahegelegene Diakonie-Station. Den Hausnotrufdienst stellt das DRK. Pragmatisch ist der Ansatz im Wohnen 60plus.
Bislang hat der Förderverein für Wohnhilfen, der sich der Caritas angeschlossen hat, nur ehrenamtlich Wohnungen vermittelt, was angesichts der Knappheit an bezahlbarem Wohnraum in Münster immer ambitionierter wurde. Christian Benning konnte dank der Finanzierung durch Landesmittel im Modellprojekt als erster hauptamtlicher Mitarbeiter eingestellt werden. Jetzt zahlen die Stadt Münster und die Franz-Bröcker-Stiftung. Hinzu kommen Eigenmittel des Fördervereins. Hauswirtschaft und Betreuung durch studentische Hilfskräfte bleiben auch nach Projektende gesetzt.
Die Wohn- und Stadtbau, die die Dreifaltigkeitskirche umgebaut hat und weitere Etagen an eine Physiotherapeutische Praxis, eine Werbeagentur und eine Wohngruppe Suchterkrankter vermietet hat, sei so überzeugt, dass weitere elf Plätze in einem großen Wohnprojekt geplant sind, so Benning. Mit dem Bau ist gerade auf dem ehemaligen TÜV-Gelände nur wenige hundert Meter entfernt begonnen worden. Diese Gruppe soll Benning mitbetreuen. Die Erweiterung wird dringend benötigt, um die Warteliste abzubauen, versichert der Sozialarbeiter.
Ruhe suchen und finden die ehemals Wohnungslosen im Wohnen 60plus. Bei Bedarf auch Gemeinschaft beim Essen, den Spielenachmittagen oder bei Ausflügen. "Da ist auch viel spontan möglich, wenn die studentischen Hilfskräfte in den Abendstunden da sind", sagt Benning. Gerne kommen mal Nachbarn dazu aus den 16 Wohnungen, die in zwei Riegeln im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus im Norden angebaut worden sind.
Mit jetzt 83 Jahren, die man ihm nicht ansieht, ist Otto Z. eher untypisch alt für ein hartes Straßenleben. Aber nicht der älteste. Walter S. ist schon 88, zwar inzwischen teilweise auf den Rollstuhl angewiesen, aber "noch sehr präsent", wie Christian Benning sagt, und "macht bei allen Sachen mit". Er hat sich sofort für die Sonnenseite des Gebäudes entschieden, will ganz bewusst den regen Verkehr auf dem vierspurigen Ring aus dem bodentiefen Fenster heraus erleben.
145-2016 (hgw) 27. Dezember 2016