Der Grund dafür ist für den Münsteraner Diözesancaritasdirektor Heinz-Josef Kessmann klar: "Weil die Ursachen nicht angegangen werden". Unter andere seien sowohl die Hartz-IV-Sätze als auch der Mindestlohn nicht auskömmllich und die Förderung von langzeitarbeitslosen Menschen unzureichend und nicht passgenau. Kessmann fordert die Politik auf der Grundlage der Erkenntnisse aus dem Bericht auf, Armut systematisch entgegenzuwirken. Deutlicher werden die Defizite noch in einem eigenen Kapitel der Freien Wohlfahrtspflege NRW, das mit dem Titel "Armen eine Stimme geben" Fallbeispiele schildert.
Nach wie vor wachse ein Viertel der Kinder im Land in Armut auf, erklärt Kessmann. Wie ungleich ihre Chancen auf eine bessere Zukunft seien und wie wenig sie der Gesellschaft wert seien, könne ein Zahlenbeispiel verdeutlich. Für Sechs- bis 13jährige Kinder sehe das Arbeitslosengeld II einen Anteil von 0,17 Prozent für Bildung vor. "Das sind 55 Cent im Monat", sagt Kessmann: "Für ein Tablet zum Preis von 300 Euro müssten Eltern 45 Jahre sparen". Für Jugendliche von 14 bis 18 Jahre seien sogar nur 0,07 Prozent oder 26 Cent eingerechnet. Vor allem das Homeschooling im vergangenen Jahr habe hier die Benachteiligung bei der technischen Ausstattung der Kinder in armen Familien aufgezeigt. Selbst wenn die Schule ein Tablet zur Verfügung stelle, blieben die Kosten für die Internetverbindung.
Nicht weniger problematisch sei die Lage auf dem Wohnungsmarkt für arme Menschen. Nicht nur in den Städten sei bezahlbarer Wohnraum bei steigenden Mieten und Nebenkosten für sie immer schwieriger zu finden, so Kessmann. Menschen müssten bei drohender oder akuter Wohnungsnot stärker unterstützt sowie mittel- und langfristig mehr Sozialwohnungen gebaut werden.
Zwar würden die Hartz-IV-Gesetze in ihrem Kern in diesem Jahr "volljährig", aber von ausgereift könne keine Rede sein. Immer deutlicher zeigten sich die Folgen zu knapp bemessener Regelsätze. Sie ermöglichten keine wirkliche Teilhabe an der Gesellschaft und schon gar keine Bildungsgerechtigkeit für Kinder und Jugendliche. In der Praxis erhielten viele Familien nicht einmal den als Existenzminimum definierten Satz, weil immer ein Darlehen zum Beispiel für eine kaputte Waschmaschine abzutragen sei.
Groß sei das Armutsrisiko bei geringqualifizierten Arbeitnehmern. Gerade sie hätten in der Pandemie ihre Jobs verloren oder seien von Kurzarbeit betroffen. Oft arbeiteten sie zum Mindestlohn von derzeit 9,50 Euro/Stunde, der Armut in Familien nicht verhindern könne und deshalb regelmäßig aufgestockt werden müsse, erklärt der Diözesancaritasdirektor.
Bis zum nächsten Bericht, der turnusgemäß wieder in vier Jahren fällig sei, muss nach Ansicht von Heinz-Josef Kessmann die Zeit genutzt werden, um ernsthaft Strategien gegen die sich weiter verfestigende Armut zu entwickeln. Selbst ein Jahrzehnt wirtschaftlichen Aufschwungs habe an der Armutsquote fast nichts verändert: "Da ist die Sozialpolitik gefragt."
022/2021 (hgw) 25. Februar 2021