Deutscher Caritasverband / Harald Oppitz, KNA
Eine vermutlich hohe Dunkelziffer von Gewalt an Kindern in der Krise und ungleiche Bildungschancen zu bewältigen, würden zukünftige Aufgaben sein.
Eine kleine Stadtwohnung ohne Garten, alleinerziehend mit zwei Kindern. Zusätzlich die Belastung aus dem Home-Office. In dieser Konstellation steckt Zündstoff. "Die Anspannung bei einer Betreuung rund um die Uhr steigt", schätzt Michael Kaiser zur häuslichen Situation vieler Familien.
Entgegen vieler Erwartungen aber haben Fallzahlen von Kindeswohlgefährdungen in der Corona-Krise nicht zugenommen - im Gegenteil. Eine Abfrage der Jugendämter in der Region Münsterland durch das Kinderheim St. Mauritz zeigte rückläufige Tendenzen. "Das ist ein Alarmzeichen", sagt Kaiser. Man müsse von einer hohen Dunkelziffer ausgehen. Was fehlte, seien Einrichtungen wie Kindergarten oder Schule, die blaue Flecken, Fernbleiben von Kindern oder andere Auffälligkeiten melden.
Kaisers Einschätzung deckt sich mit einer geringeren Nachfrage von Kinderkrisenangeboten der Caritas. Im April war die Kinderkrisenhilfe St. Mauritz nur halb so stark belegt wie zur gleichen Zeit im Vorjahr. Auch die Vestische Kinder- und Jugendklinik der Caritas in Datteln habe in den ersten Wochen nach Schulschließung in der Medizinischen Kinderschutzambulanz deutlich weniger Kinder aufgenommen, sagt Pressesprecherin Hannah Iserloh.
Michael Kaiser geht davon aus, dass die Meldungen zu Kindeswohlgefährdung mit zunehmenden Lockerungen steigen werden. Er ruft zur Solidarität mit Kindern in der Gesellschaft auf: "Einem mulmigen Gefühl, dass bei dem Nachbarskind etwas nicht stimmt, sollte man nachgehen". Frank Müller, Fachbereichsleiter der Kinder-, Jugend- und Familienberatung der Caritas Rheine und Psychologe prognostiziert, dass Kinder nach dem Lockdown Zeit brauchen werden, diese besondere Situation zu verarbeiten.
Erziehungsberatungsstellen oder Sozialpädagogisch Flexible Hilfen der Caritas sind auch während der Kontaktbeschränkungen Anlaufstelle für Familien oder Kinder mit Beratungswunsch. Über Telefon oder Onlineberatung sind Fachberater erreichbar - in besonderen Fällen auch persönlich. "Wenn klar war, dass es in der Familie kriselt, sind wir hingefahren und haben einen gemeinsamen Spaziergang gemacht", sagt Müller. Wo Eltern überfordert waren, fand auch mal Kinderbeschäftigung über das Telefon statt, beispielsweise mit einer täglichen Partie Schach.
Kinder, deren Eltern zuhause eine gute Struktur ermöglichen und selbst bildungsnah sind, hätten bessere Bedingungen, gut durch die Krisenzeit gekommen, so Müller. Problematisch ist es dann, wenn Hausaufgaben nicht nachgehalten werden, weil Schule keine große Rolle spielt. Müller schätzt, dass "der individuelle Förderbedarf deutlich steigen wird" und appelliert, jetzt an Lösungen zu arbeiten, um die Chance auf Bildungsgleichheit wiederherzustellen.
046-2020 (bü) 20. Mai 2020