Bunte gestrickte und genähte Unikate finden sich behutsam drapiert in den Regalen. Von der Patchworktasche aus alten Kaffeeverpackungen über den Knisterfrosch für Kleinkinder ist alles in den Räumen der Nähstube entstanden. Membere näht gerade an einem neuen Kleid, das sie zur Kirche tragen möchte. Mit 50 Jahren floh sie aus Äthiopien vor den Kriegen in ihrer Heimat. Jetzt ist sie seit zehn Jahren in Deutschland, jeden Montag besucht sie zwischen 10 und 16 Uhr die Nähstube. "Zuhause bin ich alleine, hier kann ich reden", schätzt die lebensfrohe Frau das Angebot. Auch Mona kommt regelmäßig. Mit Stolz präsentiert sie die selbstgestrickten Kinderschuhe. Die 37jährige kommt aus dem Libanon und ist froh, in der Nähstube gute Kontakte geknüpft zu haben. "Wir sind hier wie eine Familie".
Das Ladenlokal mit der großen Fensterfront ist Anlaufstelle für Frauen mit Migrationshintergrund. Etwa sechs Nähinteressierte aus Herkunftsländern wie Syrien, Kasachstan, dem Libanon oder Äthiopien finden sich wöchentlich ein. In Deutschland Anschluss zu finden, sei gar nicht so leicht, weiß Sybille Averdung, Koordinatorin des Fachbereichs Hilfe für Geflüchtete: "Besonders wichtig sind Kontakte auf Augenhöhe mit der Mehrheitsbevölkerung". Beim Fußfassen in der Gesellschaft hilft die Nähstube.
"Wir nähen und beraten, außerdem sind wir vernetzend tätig", berichtet Sozialarbeiterin Maria Bongers. Kinderbetreuung oder Bildungsangebote seien Themen, die oft nachgefragt würden. Wichtig sei auch: In der Nähstube wird deutsch gesprochen. Darauf legen besonders die Teilnehmerinnen untereinander großen Wert. Die Nähstube ist in Recklinghausen seit März 2018 Teil des Projekts "Brückenschlag in die Gesellschaft". Geflüchtete kommen miteinander in Kontakt, helfen sich gegenseitig und werden dabei von Ehrenamtlichen unterstützt - und die besten Gespräche kommen zu Stande, wenn man gemeinsam etwas tut.
Nähmaschinen, Stoffe, Wolle und alles, was für die Verarbeitung gebraucht wird, erhalten die Besucherinnen kostenfrei in der Nähstube. Daraus Kleidung zu fertigen, haben einige schon in ihrer Heimat gelernt. Andere nutzen dankbar die Anleitung von fingerfertigen Ehrenamtlichen. Neben Memberes Nähmaschine liegt ihr Smartphone. Denn trotz altem Handwerk sind die Frauen hier alles andere als antiquiert - Videotutorials aus dem Internet werden regelmäßig zu Rate gezogen und erweitern das Können.
Maria Bongers schätzt an der Nähstube auch die Upcycling-Mentalität. Aus alten Stoffen, die gespendet werden, entsteht etwas Neues. Von dem nachhaltigen Gedanken profitieren die Migrantinnen. "Oft ist das Geld knapp", weiß die Sozialarbeiterin, selbstgeschneiderte Kleidung könne die Geldbörse entspannen.
Dürfte die Fachbereichskoordinatorin sich etwas wünschen, dann wäre das ein ähnliches Angebot für Männer. "Leider fehlen uns noch die männlichen nähbegeisterten Ehrenamtler", bedauert sie. Bis sich diese finden und darüber hinaus, treffen sich weiterhin immer montags Frauen mit und ohne Migrationshintergrund zum gemeinsamen Handarbeiten und Ankommen. Averdung ist wichtig, "jeder, der klopft und fragt, was hier los ist, ist herzlich willkommen".
055-2019 (bü) 23. August 2019